Ulrich Gurr

Kinderarzt & Jugendarzt
geboren: 1953 in Unna/Westfalen
Medizinstudium: 3 Jahre in Gent (B), 4 Jahre in Aachen
6 Jahre Assistenzarzt an der Kinderklinik der RWTH
seit 1988 niedergelassen als Kinder- und Jugendarzt
langjährige medizinisch-beratende Betreuung der Itertalklinik Aachen
langjährige ehrenamtliche Mitarbeit im Kinderschutzbund Aachen e.V
verheiratet, 3 erwachsene Kinder
Interview mit Ulrich Gurr

„Ohne Schicki-Micki, dafür aber mit Herz“

Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin beantwortet Fragen zu der Geschichte seiner Praxis, seiner Arbeitsweise und seiner Auffassung von kind- und elterngerechter Medizin.

 

Herr Gurr, Ihre Praxis im Medizinischen Zentrum Karlsgraben ist eine stadtbekannte Institution. Erzählen Sie doch etwas über Ihre Anfänge.

Die Praxis hat im Viertel eine gewisse Tradition. Gegründet wurde sie 1953 vom Kollegen Dr. Stöhr, der im Hirschgraben Nr. 3 praktizierte. 1988 habe ich seine Praxis übernommen, 1990 sind wir dann in die Räume hier am Karlsgraben umgezogen. Wir sind also im Viertel geblieben, ich bin hier verwurzelt und mag dieses Viertel und seine Bewohner. Das Jakobsviertel ist ein schönes, stadtnahes Aachener Wohnquartier mit vielen kleinen Kindern.
Unsere Praxis liegt auf dem Gelände der ehemaligen Tuchfabrik Delius. Wir sind Teil des Medizinischen Zentrums Karlsgraben 23. Zehn Praxen aus allen medizinischen Bereichen sind hier unter einem Dach vereint, eine Apotheke haben wir auch im Haus. Für unsere Patienten ist der Standort MZ Karlsgraben attraktiv. Er bedeutet kurze Wege, erhebliche Fachkompetenz an einem Ort und eine schnelle, unbürokratische Versorgung.
Unsere Praxis liegt übrigens im Erdgeschoss. Das hat Symbolcharakter: Wir wollten niedrige Eintritts-Hemmschwellen. Allen unseren Patienten und deren Eltern sollte die Kontaktaufnahme mit uns leicht fallen. Es ist eben nur einen Schritt von der Straße bis in unsere Räume.

Wer sind Ihre Klienten?

 

Säuglinge, Kleinkinder, Kindergartenkinder, Schulanfänger, Schulkinder, Jugendliche, Mädchen und Jungen, Kinder ausländischer und deutscher Herkunft, Kinder mit Behinderung und Kinder ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft. Unsere Patienten kommen aus allen sozialen Schichten und sind nach Nationalitäten bunt gemischt. Die großen Studentenwohnheime der Stadt liegen nicht weit vom Karlsgraben weg, so finden auch immer mehr studentische Familien den Weg in meine Praxis. Wir betreuen auch viele Migrantenfamilien, insbesondere Türken und Nordafrikaner. Und natürlich auch unsere alteingesessene bürgerliche Stammkundschaft aus dem Jakobsviertel. Ich bin in Englisch und Französisch hinreichend fit, meist kann ich mich mit unseren fremdsprachigen Patienten problemlos verständigen.

Gibt es bestimmte Leitsätze, unter die Sie Ihre Arbeit mit Ihren Patienten stellen?

 

Sehr wichtig war mir immer das Prinzip der Durchschaubarkeit. Wir versuchen alles, was wir tun, für unsere Familien durchschaubar zu machen. Das betrifft zum einen die organisatorischen Abläufe in der Praxis, zum anderen aber auch unseren medizinischen Ansatz. Es ist mein Anspruch, meinen Patienten und deren Eltern alles, was ich tue, nachvollziehbar zu erklären. Ich bin jederzeit bereit, mich auf eine medizinische Diskussion einzulassen und zu begründen, was ich als Therapie vorschlage. Übrigens: Ich bin auch in der Lage, meine Meinung und Vorschläge in der Diskussion mit den Eltern zu ändern.

Führt das nicht zu einer Verunsicherung der Eltern?

 

Seine Position auch einmal revidieren zu können – z. B. wenn man zusätzliche Informationen erhält – halte ich eher für eine Stärke als für eine Schwäche.
Ich sehe im partnerschaftlichen Umgang zwischen Patient, Eltern und Arzt eine ganz wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Genesung. Bei einem Kinderarzt verlaufen Gespräche anders als im Erwachsenenbereich. Bei uns sind es mindestens drei Personen, die mit einander kommunizieren, Kind, Eltern, Arzt. Ich versuche immer, das Kind entsprechend seines Alters mit in die Kommunikation einzubeziehen. Ich spreche viel mit den Kindern. Daraus gewinne ich viele wichtige Informationen. Wenn ich sehe, wie die Kleinen reagieren, weiß ich oft schnell, wo der Schuh wirklich drückt.

Sie setzen also auf eine gesprächsorientierte Medizin?

 

Richtig. In der Praxis ist das zwar oft eine zeitraubende Angelegenheit. Für mich ist die gesprächsorientierte Medizin aber der einzige Weg zu einer qualitativ hochwertigen Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Mit dieser Herangehensweise erreiche ich mehr als nur gut abgesicherte Befunde. Haben alle Beteiligten sich die entsprechende Zeit fürs Gespräch genommen, haben auch alle ein gutes Gefühl. Ich bin immer bestrebt, dass meine Familien zufrieden nach Hause gehen.

Wir legen viel Wert auf das therapeutische Gespräch, weniger auf Technik. Wir versuchen den Kindern beängstigende Untersuchungsprozeduren weitestgehend zu ersparen. Damit aus Krankheit keine unnötige Belastung wird.

Heißt das, Sie sind technikskeptisch eingestellt?

 

Nein, ganz sicher nicht, das wäre auch unverantwortlich. Wir lösen das Thema Technik nur anders. Unsere Praxis ist sehr gut vernetzt. Ich habe ständig Kontakt mit anderen Kollegen. Wenn ergänzende Untersuchungen oder Behandlungen nötig werden, rufe ich den geeigneten Kollegen an und bereite sie auf meine Patienten vor. Hier besteht durchgängig immer eine persönliche Kommunikation.
Diese Netzwerkarbeit ist zeitaufwändig. Mir ist sie aber sehr wichtig. Sie hilft vor allem unseren Patienten, die nicht mit ihrem Überweisungsschein allein gelassen werden. Wenn sie zum Fachkollegen kommen, weiß der bereits über ihren Fall Bescheid. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit Krankengymnasten, Logopäden, Ergotherapeuten und weiteren medizinischen Heilberufen.

Nach welchem medizinischen Ansatz arbeiten Sie in Ihrer Praxis?

 

Medizinisch-inhaltlich betreibe ich klassische Schulmedizin: leitlinienorientiert und evidenzbasiert. Das heißt: Alles, was ich veranlasse und tue, muss wissenschaftlich fundiert und in seiner Sinnhaftigkeit durch Studien belegt sein.

Lassen sich in der Praxis hinsichtlich Ihrer therapeutischen Entscheidungen so glasklare Grenzen ziehen?

 

Es kommt immer auf den Einzelfall an. Wenn die Not groß ist und eine Lösung her muss, versuche ich natürlich auch Dinge, die nicht unbedingt evidenzbasiert sind. Es gibt zahlreiche Therapien, die nicht evidenzbasiert sind und trotzdem wirken. Wir sprechen jetzt über Bereiche wie Homöopathie, Naturheilkunde etc. Diese Verfahren lehne ich nicht grundsätzlich ab, aber sie sind nicht mein Fachgebiet. Obwohl ich manchmal auch ‚Kügelchen’ verschreibe. Manchmal wirken die, oft wirken sie nicht. Ich denke, wenn man die Familien vernünftig über Leistungsgrenzen einer Therapie informiert, sind sie auch nicht enttäuscht, wenn es einmal nicht so läuft, wie man es gerne hätte. Mit anderen Worten: Sollte ich mich einmal gezwungen sehen, etwas zu tun, was medizinisch-wissenschaftlich als umstritten gilt, so weise ich vorher darauf hin.

Gibt es weitere Grundsätze, die Ihre Arbeit und den Umgang mit Ihren Patienten bestimmen?

 

Sicher kennen Sie den Slogan ‚Eltern stark machen!‘ Er bringt einen Grundsatz unserer Arbeit auf den Punkt. Wir wollen nicht verunsichern, nicht ständig problematisieren. Wir fokussieren uns nicht auf alle eventuellen Risiken und Nebenwirkungen oder alle möglichen Wenns und Abers. Das bringt nichts. Wer heute nur genug über Säuglingsernährung liest, braucht sein Baby eigentlich gar nicht mehr zu füttern – er macht eh immer etwas falsch.
Verunsichern kann nicht der Sinn von Beratung sein. Wir wollen helfen. Das geht immer noch am besten, wenn man den Blick auf die positiven Faktoren einer Situation lenkt. Ich möchte Eltern stark machen, selbstbewusst, ihnen durch Zuspruch Sicherheit geben. Das ist zugleich auch das Beste für ihr krankes Kind.
Ein weiteres Prinzip unserer Arbeit mit den kleinen Patienten heißt ‚Ganzheitlichkeit‘. Ich weiß, dieser Begriff klingt inzwischen ziemlich abgedroschen. Er bezeichnet aber etwas ganz Wichtiges: Wer gute Diagnosen stellen will, darf nicht nur auf die Krankheit sehen, nicht nur auf das Kind, sondern auf das gesamte soziale Umfeld, in dem es aufwächst. Oft genug werden bestimmte Fehlentwicklungen erst aus dem sozialen Kontext erklärbar. Selbstverständlich müssen Behandlungsmaßnahmen diese Kontextbedingungen mit einbeziehen.
Haben Sie sich auf bestimmte Arbeitsschwerpunkte spezialisiert?
Ich bin klassischer Kinderarzt, also der “first-line-doctor“ für Kinder. Im Alltag haben sich aber Schwerpunktfelder herauskristallisiert. Eines wäre die Allergologie. Ich führe viele Hyposensibilisierungsbehandlungen durch. Ein anderer Schwerpunkt sind meine zahlreichen ADHS-Patienten.
Ansonsten beschränke ich mich auf die Kernaufgaben, die jeder von einem Kinderarzt erwartet: Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen, Durchführung der Impfungen, Durchführung von Infekt- und Akutsprechstunden.

Sie sind nun seit 25 Jahren Kinderarzt in Aachen. Hat sich Ihre Arbeit im Laufe der Jahre verändert?

 

Was den Umgang mit den Patienten angeht, ja. Für die Kinder war ich früher der Onkel, jetzt bin ich der Opa. Ihre Eltern könnten meist meine eigenen Kinder sein.
Unser Berufsalltag, das wissen Sie, ist in den letzten 25 Jahren unendlich viel bürokratischer geworden. Der Papierkram ist eine Geißel unserer Tage. Ich versuche ihn auf ein Minimum zu reduzieren, aber er stiehlt mir doch unendlich viel Zeit.
Auch meine Herangehensweise an die Aufgabenstellungen hat sich geändert. Nach 25 Berufsjahren verfügt man über eine ganz andere Abgeklärtheit und Ruhe, mit der man seine Aufgaben erledigt. Als junger Arzt hat man die nicht immer. Eine wachsame Routine ist für ein erfolgreiches Arbeiten sehr wertvoll. Nach all den Jahren zu wissen, wo der Hase lang läuft, gibt viel Sicherheit und ist für mich persönlich auch sehr befriedigend.

Ihre Praxis ist im Viertel sehr beliebt und wird gut frequentiert. Können Sie uns in einem Satz die Gründe dafür nennen?'

 

Ich glaube, die Patienten spüren, dass sie mit ihren Sorgen von uns ernst genommen werden und sich bei uns in guten Händen befinden. Das hat auch seinen guten Grund, den ich vielleicht einmal locker so formulieren darf: Wir hoffen, unseren Patienten und ihren Eltern eine sehr solide Qualitäts-Pädiatrie zu bieten, ohne Schicki-Micki, dafür aber mit Herz.